Episode 18

Die Ausfahrt

Roberto und Marinas Bruder fahren zusammen. Vor Schreck.

«Kupplung durchdrücken, Amigo, und jetzt LANGSAM kommen lassen, langsam! Heieiei! So wird das nichts!» Roberto Borello lag zusammengekrümmt auf dem Rücksitz des schwarzen Ford Mustang und bei jedem Ruckeln drückte er seine Fingernägel etwas tiefer ins Leder. Vor Schmerz und Verzweiflung. Eine professionelle Flucht sah anders aus. Sie waren erst bis zur Signalanlage beim Sportcenter Baregg gekommen. Und dort standen sie nun seit gut fünfzehn Minuten. Die Ampel hatte schon dreimal auf grün gewechselt, aber der Fluchtfahrer schaffte es partout nicht, anzufahren, er würgte den Motor immer wieder ab, sie wurden hupend und fingerzeigend überholt, es war ein Desaster. «Ok, versuchen wir es anders», sagte Roberto mit schmerzverzehrtem Gesicht, «wie heisst du, Amigo?» Marinas Bruder blickte in den Innenspiegel. Die Stirn schweissnass. Die Frisur nur noch ein Witz. «Dirty One», sagte Marinas Bruder und bliess sich eine Strähne aus den Augen. «Dirty One? Was soll das denn für ein Name sein?» fragte Roberto. «Na, mein Sprayer-Name», antwortete Marinas Bruder erstaunt, «Sie sprayen doch auch, hat mir meine Schwester erzählt, fette Aktion übrigens mit dem Casino.» Wieder wurde es grün. Der Motor heulte auf und Lillys Oldtimer tuckerte vorwärts. «Gut so», sagte Roberto, «und jetzt etwas mehr Gas…weg von der Kupplung…mehr Gas…UND JETZT SCHALTEN…gut so.» Sie fuhren. Holprig. Aber sie fuhren.
«Amigo, wann hast du deinen Führerschein gemacht?»

«Ich habe das L dabei, falls sie das meinen. Ich war nicht sicher, ob ich es an die Scheibe machen soll oder nicht, soll ich?»

Roberto richtete sich unter Schmerzen auf.
«Du willst mir sagen, du sprayst und du fährst ohne Führerschein? Amigo, was noch? Überfällst du Banken?!»

Marinas Bruder errötete. Dann nahm er die rechte Hand vom Steuerrad, platzierte sie lässig auf dem Schaltknüppel und gab etwas mehr Gas. «Man hat mich noch nie erwischt.» Er schaltete in den falschen Gang, der Motor heulte auf, schnell versuchte er zu korrigieren, vergas aber die Kupplung, es war ein unsägliches Gemurkse. «Sie wurden ja auch noch nie erwischt», lenkte Marinas Bruder ab, «und jetzt kennt sie jeder! Sie sind ein Star.» Marinas Bruder setzte den Blinker, nahm die linke Spur beim Dättwiler Weiher und zog an ein paar Autos vorbei.
«Tellinomol! HEIEIEI! Schulterblick vor dem Spurwechsel, TAMMI! Noch nie was vom toten Winkel gehört?» Roberto sass jetzt kerzengerade, die Schmerzen waren wie weg, er rüttelte am Fahrersitz.

«Toter Winkel?» lachte Marinas Bruder, «ich befasse mich lieber mit dem Kreis des Lebens.» Er nahm die Hand vom Schaltknüppel griff in seine Jackentasche und zeigte die 20er Packung Kondome nach hinten. «Im Coop geklaut.» Seine und Robertos Augen trafen sich im Innenspiegel. «Für einen guten Zweck. Wenn sie verstehen, was ich…»
Roberto griff sich die Kondome, kurbelte das Fenster runter und schon flirrte die Packung in den nächsten Strauch am Strassenrand. «Was machen sie da?» protestierte Marinas Bruder, «ich habe nachher ein Date!» Rechts kam die 50er-Tafel und die Ampel vor ihnen wechselte auf Orange. «Die Zigaretten kannst du mir auch gleich geben», befahl Roberto und streckte seine Hand aus. Zwei Autos schafften es noch durch. Jetzt war rot. «Wollen Sie mich verarschen?» Marinas Bruder fuhr einfach durch. Der Tacho zeigte siebzig. «Sie sind nicht meine Mutter!»

«Nein, Amigo, aber glaubst du, deine Mutter wäre stolz auf dich?»

«Und wie stolz ist ihre Mutter?» Marinas Bruder quiekte als hätte er den Stimmbruch noch nicht durch.
«Jetzt musst du bremsen, Amigo!»
«Sie haben ja angefangen!»
«BREMSEN, BREMSEN!»
Ein Auto vor ihnen hatte stark verlangsamt, um links in die Tankstelle einzubiegen.
«Fuuuck!» Marinas Bruder konnte gerade noch einen Schlenker nach rechts machen und auf die Velospur ausweichen, zum Glück fuhr da niemand, der Ford Mustang schlingerte, erst beim Schadenmühleplatz hatte Marinas Bruder den Wagen wieder einigermassen unter Kontrolle. Nun fuhr er mit dreissig Stundenkilometern und Zitternden Knien.
«Sagen Sie mir nicht, was richtig oder falsch ist.» Fast weinte er.
«Du hast recht», sagte Roberto. «Meine Mutter kann auch nicht stolz sein auf mich.» Bis zur Schulhausplatz-Kreuzung schwiegen sie. Dann klopfte Roberto Marinas Bruder von hinten auf die Schulter. «Aber was richtig ist, das zeige ich dir jetzt.» Er hielt kurz inne. «Bitte bieg hier rechts ab.»

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