Episode 17

Der Seelsorger

Diesen Pfarrer kann nichts mehr überraschen. Aber irgendwann ist immer das erste Mal.

Peter «Pesche» Eichelberger kriegte gerade seinen Hintern versohlt, als der Anruf kam. Dafür, dass er sein Handy nicht in den Flugmodus geschaltet hatte, setzte es gleich nochmals zehn Schläge ab. Seine Herrin duldete keine Störung. Sie holte die grosse Bambus-Klatsche und gab Pesche den Rest. Der reformierte Pfarrer sank auf die Knie und pries den Herren. Was für ein Glück! Er hatte Sandra, wie sie damals noch hiess, bei seinem Job als Gefängnisseelsorger kennengelernt, und er nahm für sich in Anspruch, sie ein Stück weit gerettet zu haben. Nun führte sie wieder ein einigermassen geregeltes Leben und dankte es ihm, als Mistress Ronya from hell, in dem sie ihm einmal pro Woche ordentlich die Leviten las.
Pesche war ein Matterhorn von einem Mann. Was heisst Matterhorn, eher noch Eiger, Mönch und Jungfrau hinzu. Er war ein Massiv. Sogar seine Ohrläppchen waren muskulös. Gestählt von dem ganzen Stahl der da dran hing, Stahlstifte, und Ketten, und Ohrringe in allen Grössen. Schon mehr als einmal hatte sich Mistress Ronya from hell an Pesches Ohrläppchen abgearbeitet, dass es ihm eine Freude war. Und wenn halt einmal ein Ring ausriss, dann liess sich Pesche nur ein paar Schritte weiter die Langstrasse runter beim blutigen Max ein neues Löchlein stechen, und meistens gab’s dann noch ein kleines Tattoo hinzu, aufs Haus, sozusagen, weil auch der blutige Max zu Pesches Schäfchen gehörte und froh war, dass es den «Knasti Pasti», also Pastor, gab.
Pesche trat auf die Strasse hinaus und blinzelte. Seine Augen brauchten einen kurzen Moment, um sich an das Licht zu gewöhnen. Unter der Maske war es stockdunkel gewesen. Er fuhr sich durch die langen, grauen Haare, die in alle Richtungen abstanden, und klaubte aus der Tasche seines Jeans-Gilets Zigarettenpäckchen und Feuerzeug hervor. Jeder zweite Passant grüsste ihn. Pesche nickte freundlich und nahm einen tiefen Zug, ehe er die Nummer auf seinem Handy recherchierte. Der gewohnte Hustenanfall geriet dieses Mal etwas länger. Der Pfarrer kriegte sich fast nicht mehr ein. Kantonsspital Baden. Jo verreckte Chaib. Was wollten die denn von ihm? Baden lag im Aargau. Und mit Aargauern hatte er per se Mühe. Er kannte diese Brüder und Schwestern, denn aus dem tiefsten Aargau kam er her. Pesche swipte die Nummer nach links, um sie zu löschen, da realisierte er, dass der Anrufer eine Nachricht hinterlassen hatte. Ja, das glaub ich jetzt aber nicht! Wer spricht denn heutzutage noch aufs Band? Wie kaputt muss man sein? Wie verzweifelt? In diesem Moment ging die Tür hinter ihm auf und Sandra kam aus dem Etablissement, chic in Zivil. Sie gab ihm im Vorbeilaufen einen Klaps auf den Hintern und bat ihn, Frau und Kinder zu grüssen. Nach ein paar Schritten blieb sie nochmals stehen, drehte sich um und befahl mit ihrer Ronya-Stimme: «Du rufst jetzt zurück!»

Pfarrer Pesche Eichelberger fluchte, als er auf der A1 Richtung Baden rollte. Seine Harley Fat Boy 114 wirkte unter ihm wie ein E-Bike. Seine Cowboystiefel fanden auf den Fussrasten kaum Platz. Auf einen Helm verzichtete er aus Prinzip. So konnte er ohne gefährliches Herumhantieren einen Schluck aus seinem Flachmann nehmen. Und den brauchte er jetzt dringend. Die Schmerzen waren kaum auszuhalten. Sich unmittelbar nach einer Behandlung von Mistress Ronya from hell auf einen Sattel zu schwingen war ein Supplement, sozusagen ein Nachschlag, auf den er gerne verzichtet hätte. Highland Schottland! Ab dem Fressbalken fluchte Pesche ohne Luft zu holen durch. Es gab genau eine Person, für die er bereit war, diesen Höllenritt in den Aargau auf sich zu nehmen, nur eine Person, seine Tante und Ersatz-Mama. Lilly Binder.

«Jesses, Pesche!» entfuhr es Lilly, als ihr Neffe zur Tür rein kam, «du schleichst ja hier rein wie ein geschlagener Hund. Mach doch nicht so ein Gesicht. Ein bisschen Spitalluft schnuppern tut jedem gut, wirst sehen, das belebt richtig, wenn man es wieder rausschafft.» Sie klopfte zweimal mit der Hand neben sich, der rote Nagellack leuchtete noch intensiver, im Kontrast zum weissen Lack, Lilly strahlte, «lass dich ansehen, hast du abgenommen? Du riechst ein wenig, ist das Cognac?»
«Cola Zero», sagte Pesche, «mit Rum.»
Er küsste Lilly auf die schlaffe Wange, zog sich einen Stuhl ans Bett und hielt ihr den Flachmann hin: «Den kennst du ja noch. Ich habe noch alle deine Geschenke.» Pesche drehte seinen Kopf und rasselte mit den Ohrringen und Kettchen. «Warum liegst du im Spital?»
Lilly nahm einen kräftigen Schluck. Dann tröpfelte sie sich etwas Rum-Cola Zero in die Handfläche, machte ein braunes Seelein und hielt es dem schwarzen Kater bei ihren Füssen vor die Schnauze. Pesche juckte auf, er hatte das Tier bis dahin noch gar nicht bemerkt. «Verreckte Chaib», sagte er und schlug ein Kreuz, was macht diese schwarze Katze hier, das ist der Teufel höchstpersönlich!»
«Immer noch abergläubisch?» sagte Lilly und bedeutete Pesche wieder Platz zu nehmen.
«Nein», sagte dieser und nahm sich den Flachmann zurück, «allergisch. Ich musste schon zweimal in den Notfall wegen Katzenhaaren.»
«Dann musst du heute nicht weit», sagte Lilly und trocknete sich die abgeschleckte Hand an Kater Carlos Rücken ab. «Hast du dein Öllämpchen dabei?»
Pesche stutzte. Sein Öllämpchen zündete er immer nur bei offiziellen Besuchen an. Die Flamme und das Hasch-Öl schufen eine heimelige Atmosphäre, auch bei den schwierigsten Krisengesprächen.
«Warum denn mein Öllämpchen?» fragte Pesche, «Tante, mach jetzt keinen Scheiss. Entschuldigung.»
Lilly legte ihm die Hand auf den tätowierten Unterarm. «Mein Lieber, kannst du dich an Charles erinnern, meinen Mann?»
«Welchen deiner Männer?» fragte Pesche, und er wusste, diese Frage würde seine Tante Lilly etwas verlegen machen vor Stolz. «Na Charles», sagte Lilly, «der Mann, der immer an meiner Seite war, mein Lieblingsmann.»
«Der mit den Katzen?» fragte Pesche.
«Schnitzel und Pommes», sagte Lilly, «ganz genau der.»
Pesche sah seine Tante fragend an. Seine Augen waren bereits stark gerötet und seine Nase triefte.
«Nun», sagte Lilly, «du wirst lachen, Charles ist tot.»
«Verreckte Chaib», sagte Pesche, «wann?»
«Vor vier Tagen. Liegt jetzt bei Schnitzel und Pommes», sagte Lilly.
«Wie ist er gestorben?»
«Schnell.»
«Was willst du damit sagen, Tante?»
Lilly fuhr Pesche mit der Hand über das Haupt und stoppte dann bei seinem Ohrläppchen, berührte die vielen Ohrringe. «Als ich die dir geschenkt habe, dachte ich noch, die seien echt.»
Pesche verstand nicht recht.
Die hatte Charles für mich beim Schmuck-Röbi gekauft.
«Der Schmuck-Röbi von der Bahnhofstrasse?» fragte Pesche.
«Ja», sagte Lilly, «der ist jetzt auch tot.»
Pesche starrte seine Tante aus verquollenen Augen an.
«Zünde jetzt bitte dieses Öllämpchen an», sagte sie, «ich möchte beichten.»






Alle Episoden abonnieren