Episode 9

Zum Fenster raus

Estelle hat einen Blumenstrauss. Lilly hat eine Allergie. Und Marina eine Idee, die viral gehen könnte.

«Vielen Dank, dass Sie mich nicht verraten haben», sagte Marina und hob den Blumenstrauss auf, den Estelles Verlobter lieblos auf Estelles Bett hatte liegen lassen. «Darf ich die für Sie einstellen?» Estelle zuckte mit den Schultern. «Mach mit den Blumen, was du willst.» Sie drehte sich zur Seite und schloss die Augen. Als wolle sie ihre Ruhe haben. Doch dann sprach sie mit geschlossenen Augen weiter: «Was mich interessieren würde – warum hast Du die Zigis und das Feuerzeug gerade in meinem Schrank versteckt?» Marina druckste erst herum. Dann sagte sie es einfach. «Weil Sie mich so bemuttert haben. Echt. Sie klangen fast wie meine Mutter, als ich mein Essen fotografierte. Das hat mich genervt.» Estelle schmunzelte in ihr Kissen. Die Vorstellung, jemanden zu bemuttern, Mutter zu sein, gab ihr ein schönes Gefühl. «Und ich bin dann wohl die Grossmutter», schaltete sich Lilly vom Fenster her ein. «Schiebt in Zukunft einfach alles auf mich, mir kann niemand mehr etwas anhaben.» Die Alte hustete. Und mit deutlich dünnerer Stimme fügte sie an: «Ausser diese Blumen, die bringen mich noch schneller ins Grab.» Marina zuckte leicht zusammen und hielt den Blumenstrauss gleich noch unsicherer zwischen ihren einbandagierten Armen. Als wäre er eine geladene Waffe. «Gegen Blumen sind Sie auch allergisch, nicht nur gegen schwarze Katzen?» Lilly lachte. «Und zwar gegen alle. Rosen, Lilien, Chrysanthemen, Gerbera, Calla, Hortensie…Tulpen…Orchideen…wenn ich nur schon an Blumen denke, blüht mir der Erstickungstod.» Sie hustete erneut. «Nun schau nicht so, Mädchen, darüber war ich mein ganzes Leben lang froh.» Lilly streckte ihren knochigen Arm in die Höhe, ihr Armreif sauste hinunter bis zum Ellenbogen. «Meinen Männern blieb gar nichts anderes übrig, als mir Schmuck zu schenken.» Jetzt liess sie ihren Arm wieder sinken, streifte den Armreif ab und drehte ihn in der Hand. «Echtes Gold», sagte sie. Und musste schmunzeln. «Selbstverständlich durfte es dann auch nur echter Schmuck sein. Sonst kriegte ich Juckreiz.» Sie begann sich am Arm zu kratzen, am Hals, dann mit beiden Händen an den Ohren. «Siehst du? Mit etwas Übung sieht das einigermassen dramatisch aus, und ist eigentlich nicht mal so unangenehm. Und wenn dann ein Diamant anstelle eines Swarovski-Steines dabei rausspringt, bitte sehr.» Nun gelang es Estelle nicht mehr, die Augen geschlossen zu halten und die Unbeteiligte zu mimen. Sie richtete sich auf. «Das sind aber nicht die Tipps und Werte, die man einem jungen Mädchen mitgeben sollte, jetzt ehrlich mal.» Marina verdrehte die Augen. «Danke Mama, vielen Dank!» Und Lilly richtete ihre Brille. «Es stimmt», antwortete sie, «ich habe meine Männer belogen.» Jetzt sass die Brille wieder richtig. «Aber ich habe sie immer geliebt.» Lilly blickte Estelle mit klaren Augen an. «Der Mann, der Sie besuchte, scheint da bei Ihnen weniger Glück zu haben. Weiss er es schon?» Estelle wollte mit einem ihrer Sprüche kontern, liess es dann aber sein. Sie merkte, sie musste endlich eigene Antworten finden.

«Ich habe eine Idee», sagte Marina, die auf dieses unbehagliche Schweigen, das dann folgte, allergisch war. «Sie beide können mir bei meiner neuen Video-Blog-Folge helfen.» Estelle und Lilly sahen nicht sehr begeistert aus. «Lassen Sie uns der Welt da draussen etwas mitgeben. Aber keine guten Ratschläge. Und keine Werte.» Marina machte eine Kunstpause. «Sondern einen Blumengruss!» Sie wedelte freudig mit dem Blumenstrauss, bis es ihr wieder im Handgelenk zwickte. «Kommen Sie, das könnte viral gehen!»

Zwanzig Minuten später hatten die drei Frauen an jeden Ballon eine einzelne Blume geknüpft. Lilly hatte den besten Zuschauerplatz von ihrem Bett aus. Estelle stand mit dem Ballon-Blumenstrauss am offenen Fenster, und Marina übernahm das Filmen und die Regie. «Jede Blume einzeln hinaus schweben lassen, aber noch nicht jetzt! Erst auf mein Zeichen. Moment! Ich werde nur ihre Hand filmen, close up, und wie sie Blume um Blume aus dem Spital entlässt. Achtung! Action!»

Was für ein wunderschönes Bild das ergab. Blume um Blume schwebte davon. Und es entstand eine Stille, auf die alle drei reagierten. Mit Gänsehaut.

Doch plötzlich. Rufen. Gelächter. Aufruhr. «Was ist da los?», fragte Lilly, die zwar aus dem Fenster sah, aber zu wenig weit. «Oh mein Gott», sagte Marina, die aus dem Hintergrund näher ran zoomte, «wenn das nicht viral geht!» Estelle schickte noch die letzten drei Blumen auf den Weg. «Das Baugerüst», sagte sie, die Blumen ziehen direkt zum Baugerüst, und die Arbeiter fischen danach!

«Erzähl, erzähl!» bat Lilly, «was machen sie?»

«Sieht ziemlich gefährlich aus», sagte Estelle, «einer klettert jetzt noch höher, jetzt ist er ganz oben, das wackelt ja richtig!»

«Sieht er gut aus?», fragte Lilly.

Estelle sagte nichts.

«Erzähl doch!» Lilly versuchte sich besser aufzurichten.

«Jetzt springt er ab», sagte Estelle, «wenn der runterfällt! Wie dumm ist der?!»

«Stimmt, irgendwo runterzufallen ist dir ja völlig fremd», sagte Lilly.

Aber da schwoll der Pegel an. Gejohle. Geklatsche. Pfiffe.

«Er hat sie gefangen», sagte Estelle, sichtlich erleichtert.

«Und, sieht er gut aus?» fragte Lilly abermals.

Erst jetzt merkte Estelle, dass ja alle vom Gerüst aus zu ihr herüberschauten. Auch der Rosenfänger. Und nur sie stand am offenen Fenster. Sofort wich sie ein paar Schritte zurück. Aus dem Blickfeld. «Also sieht er gut aus», sagte Lilly.

«Das geht viral», sagte Marina, «willkommen zu Marinas Welt!» Und Estelle sagte nichts mehr.

Erst als wieder alle im Bett lagen, meldete sich Estelle zurück. «Wie viele Männer hatten sie eigentlich?» fragte sie Lilly. Und Lilly antwortete. «Selbstverständlich nur einen. Offiziell.»






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