Illustration von Marina

Episode 5

Schwarze Nacht

Marina kann nicht schlafen. Und Lilly nicht sterben.

Marina paffte aus dem Fenster. Eigentlich war sie gar keine Raucherin. Und auch keine Diebin. Aber als nach der Visite plötzlich dieses Zigarettenpäckchen samt Feuerzeug vor ihrem Bett lag, zögerte sie nicht lange. Das hätte ihr Bruder bestimmt auch so gemacht. Was der nicht schon alles gemacht hat! Das meiste davon illegal. Oder zumindest im Graubereich. Oder gut erzählt. Marina vermisste ihren Bruder. Er hatte sich bisher noch nicht gemeldet. Ihre Mutter war allein zu Besuch gekommen, obwohl sie es im Spital kaum aushält, mit einem ganzen Strauss an Luftballons, obwohl sie Luftballons überhaupt nicht mag, aber Marina sehr. Sie wollte früher immer Luftballonverkäuferin werden, und nun klebten Luftballons in allen Farben an der Spitalzimmerdecke, und Marina paffte oder besser: hustete aus dem Fenster, um ihrem Bruder irgendwie näher zu sein, kurz vor drei Uhr, in dieser schwarzen Nacht. Marina erkannte knapp die Silhouetten der Kräne und Bagger. Wie Dinosaurier sahen sie aus, und zum Glück schliefen sie jetzt, diese Viecher. Toll, oder? Eine riesige Baustelle, direkt neben dem Spital, vor ihrem Fenster! Im Grunde waren hier alle Lärmpatienten. Und nicht nur wegen der Baustelle. Meine Güte. Was es in einem Spital piepst und klappert und tutet und hallt, wie es hier weint und manchmal schreit und klopft, immer klopft es irgendwo an eine Tür und alle paar Sekunden der Lift, und dann das Licht, an aus, an aus, und diese Gesundheitsschuhe, dieses Quietschen und das Trösten und Zureden und Schweigen. Das Allerschlimmste ist ja das Schweigen, denn dann hört man die Fernseher und die Blumenvasen, die mit Wasser gefüllt werden, und den Tee, der gekocht wird, und irgendwo fällt eine Nierenschale zu Boden, oder jemand erbricht in eine Nierenschale. Und diese Betten, die herumgeschoben werden, und das Blättern in Heftchen oder Büchern, nein, nie, nie ist es ruhig in einem Spital …

Vielleicht, dachte Marina, sollte sie nach einer Schlaftablette klingeln … als sie plötzlich ein Geräusch hörte, das ihr vertraut war, aber das so gar nicht in ein Spital passte. Marina hörte ein Kratzen. An der Tür. Aber das konnte gar nicht sein. Das war unmöglich. Nur Katzen kratzen so an einer Tür. Erst mit einer Pfote. Dann energischer mit beiden Pfoten. Kratzkratzkratzkratz. Marina kannte dieses Geräusch. Sie und ihr Bruder hatten auch eine Katze. Max. Vierjährig. Halb abgebissenes Ohr. Rücken schwarz. Bauch weiss. Und dick. Reicht bis zum Boden. Es war unmöglich, dass Max hierhergelaufen war. Er hätte vermutlich auch nicht den Orientierungssinn. Oder den Mut. Seit der Sache mit dem Ohr ging er eigentlich kaum noch vor die Tür. Marina kniff die Augen zusammen, horchte. Das Kratzen hörte nicht auf. Kratzkratzkratzkratz. Nervös schnippte sie die Zigi in Richtung Baustelle, ihr Handgelenk explodierte, fast hätte sie geschrien vor Schmerz. Als es wieder ging, schlich sie an ihren beiden schlafenden Zimmergenossinnen vorbei und drückte die Türklinke. Kaum war die Tür einen Spalt weit offen, schnurrte eine Katze herein. Schwarzer Rücken, aber auch schwarzer Bauch, weisses Pfötchen hinten links, schlank, aber struppig, zerzaust, wie ein Kater mit Kater, so sah der nächtliche Besucher aus, drängte sich kurz gegen Marinas Beine. Dann stolzierte er zielstrebig auf Lillys Bett zu, hüpfte hoch und rollte sich bei der Alten ein. Marina war baff. Sie tat, was sie immer tat, wenn sie grad nicht wusste, was tun. Sie griff zum Handy. Das würde ihr sonst doch niemand glauben! Ein paar Fotos später legte sie sich endlich wieder schlafen. Das Schnurren der Katze war ganz schön. Ohrenbetäubend.

Nur etwa eine Stunde später wachte Marina abrupt auf. Ein Röcheln hatte sie geweckt, ein Husten. Ein Keuchen. Sie knipste das Licht an. Lilly wand sich in ihrem Bett, sie bekam offenbar keine Luft, ihre Lippen waren schon ganz blau. Sofort drückte Marina den Alarmknopf. Der Kater war weg. Die Krankenschwester, die hereinkam, erkannte sofort den Ernst der Lage. Es dauerte nur ein paar Sekunden, da kamen auch schon andere zu Hilfe. Der Vorhang wurde ums Bett herum gezogen. Und Marina hörte wieder nur Geräusche. Und Anweisungen. Und plötzlich: Lilly. Erst verwirrt. Dann ausser sich. Was ihnen einfalle. Eine Dame. Mitten in der Nacht. Mitten aus dem Tod zu holen. Das gehöre sich nicht. Sie wäre schon fast dort gewesen. Marina wurde bleicher und bleicher. Sie schloss die Augen. Versuchte wegzuhören. Und wo zum Teufel war dieser schwarze Kater hin?






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