Episode 11

Ah, ha, ha, ha stayin’alive

Lilly leckt Blut. Roberto tanzt. Estelle auch. Und Marina filmt.

«Natürlich ist das Blut», sagte Lilly, «ich habe weiss Gott schon genug Blut gesehen in meinem Leben, glaub mir.» Sie zupfte Estelle das Stückchen Pizza-Karton aus der Hand, strich mit einem Finger über die rote Schmiere und leckte den Finger ab. «Ja.» Sie blickte genüsslich in die entsetzten Gesichter ihrer Zimmergenossinnen. «Definitiv keine Tomatensauce.» Marina quiekte vor Ekel. Estelle wandte sich ab. Dass Lilly das Blut mit dem Mittelfinger berührte, jedoch den Zeigefinger ableckte, hatten die beiden nicht gemerkt. Lilly freute sich diebisch. «Gar nicht mal so schlecht», sagte sie und sog Luft ein, als würde sie einen edlen Tropfen degustieren, «starker Körper, spritzig.» «Jetzt hören Sie aber auf», sagte Estelle, «wir sollten das melden, das ist doch irgendwie krank, oder nicht?» «Dass er sich für die Blume bedankt und Ihnen seine Nummer gibt, finden Sie krank?» fragte Marina und blickte von ihrem Handy auf. «An Ihrer Stelle würde ich mich geschmeichelt fühlen, immerhin ist der gute Mann schon fast ein Internet-Star. Dank mir.» Marina aktualisierte die Seite. «Wir sind bei 25’324 Aufrufen.»
«Schon ein wenig krank», sagte Lilly und schickte den Pizza-Karton wie einen Frisbee an Marina weiter. «Aber gar nicht krank, ist ja auch nicht gesund, wie schon Karl Valentin zu sagen pflegte.» Lilly wollte Estelle mit dem Spruch aufheitern, denn Estelle schien solche Sprüche ja zu mögen… aber Estelle verzog nur das Gesicht. «Liebes, Liebes», sagte Lilly, der es irgendwie nicht recht war, «ist doch alles halb so schlimm. Nur weil dir ein offenbar heissblütiger Fassadenkletterer mitten in der Nacht seine Handynummer ans Fenster pappt, heisst das ja nicht, dass du darauf reagieren musst.»
«Das werde ich auch nicht», sagte Estelle.
«Uups», sagte Marina, und man hörte das typische Geräusch einer Nachricht, die rausgeht, «zu spät.»

Bei Roberto Borello vibrierte es in der Hose. Er sass hoch oben im Kran und hatte eine schwere Last zu tragen. War er zu weit gegangen? Vielleicht hätte er für einmal nicht einem Impuls nachgeben, sondern zwei Minuten überlegen sollen. Mitten in der Nacht, was hatte er sich dabei gedacht? Und dann noch mit Blut? Das Vibrieren tat er zunächst als Phantom-Vibration ab. Wie oft hatte er schon auf sein Handy geschaut, und nichts, aber auch gar nichts war reingekommen. Die einzige, die sich regelmässig bei ihm meldete, war seine Mutter. Und früher oder später landete das Gespräch dann immer bei seinen Haaren. Denn «diese langen Haare!», und manchmal schnäuzte sich seine Mutter, und ihre Stimme brach, wenn sie von den langen Haaren ihres Sohnes sprach, diese langen Haare, war sie überzeugt, waren der Grund, weshalb Roberto noch immer Single und sie noch keine Grossmutter war. Robertos Hand verkrampft sich um den Steuerknüppel. Ihr letztes Gespräch war nun doch schon ein paar Wochen her. So lange war noch nie Funkstille gewesen. Aber Roberto hatte sich den Spruch einfach nicht verkneifen können. Da hatte sich zu viel aufgestaut. «Lieber eine lange Haarsträhne als eine lange Pechsträhne», hatte er gesagt, «viel Spass im Casino», und hatte aufgelegt. Nun hatte er keine Ahnung, wie es seiner Mutter seither ergangen war. «Lebst du noch?!» meldete sich der Arbeitskollege vom Kran links neben ihm per Funk. «Die unten verwerfen schon die Hände.» In diesem Moment vibrierte abermals Robertos Handy. Zur Erinnerung an die ungelesene Nachricht. «Geht gleich weiter», funkte er durch, und las die Whatsapp.

«Was hast du ihm geschrieben? Sag schon!» Estelle warf ihr Kissen nach Marina. Die wehrte mit ihren einbandagierten Armen ab und jaulte auf. «Nichts schlimmes, nichts schlimmes!» beteuerte sie unter Schmerzen. «Lassen Sie sich doch einfach mal überraschen.» Dann hörten sie die Musik.

Als die Kollegen unten abgeladen hatten, zog Roberto das leere Stahlalett mit dem Kranen hoch. Bis ganz oben. Er schwenkte den Kranenarm in die richtige Position, dann erhob er sich von seinem gepolsterten Stuhl, steckte das kleine Radio, das er schon an seinem allersten Arbeitstag in der Kabine installiert hatte, in seinen Hosenbund, und kletterte raus. Höhenangst kannte er nicht. Er stieg jeden Morgen vierzig Meter in die Höhe, auf dieses Ungetüm, es war ihm so vertraut, er hatte es schon bei Wind erlebt, wie es schwankte, er hatte keine Angst. Er kletterte den Arm entlang und dann runter auf das Palett. Im Radio spielten sie gerade einen alten Disco-Klassiker. Roberto drehte auf. Vollgas. Und dann tanzte er. Hielt sich an den Stahlseilen fest und tanzte, tanzte wild…und beim Refrain sang er mit…völlig ausgelassen…in windiger Höhe…bis er sie am Fenster sah…

Estelle lachte Tränen…sie konnte nicht anders…was für ein verrückter Vogel…diese Moves! Und sie tanzte mit. Und Roberto sah sie, von seiner freischwebenden Bühne aus, wie sie an beiden Händen Zeigefinger und Mittelfinger spreizte und die Finger im Rhythmus an ihren Augen vorbei zog. Und das stachelte ihn nur noch mehr an. Roberto sprang in den Spagat.

«Was für ein Irrer», sagte Kantonspolizist Frunz zu seinem Kollegen Hitz, als sie sich das Video von dem Arbeiter anschauten, das gerade viral ging. «Stimmt», antwortete Hitz, «und irgendwie kommt mir der Typ bekannt vor…»






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