Illustration Frau in Ketchup-Kostüm

Episode 1

Estelle reitet sich rein

Estelle Allemann steht an einem Wendepunkt in ihrem Leben. Und sie hat reichlich getrunken. Zum Glück.

Estelle Allemann hatte genug. Mehr als genug. Sie hatte diesen Polterabend nie gewollt. Noch ein Bier und sie würde sich übergeben. «Hier, noch ein Bier», sagte ihre zukünftige Schwägerin und füllte erneut das mächtige Glas, das an Estelles rechte Hand gegipst war. «Wer meinen Bruder heiratet, der muss auch bechern können.» Es war kurz vor 22 Uhr, mitten in Baden, vor dem Pickwick-Pup. Zum Glück kannte man Estelle hier nicht. Sie war als Ketchup-Flasche verkleidet.

Vor drei Stunden war sie noch Zuhause auf dem Sofa gelegen, Klatschheftchen blätternd, Chips futternd, eine Sendung über ungewollte Schwangerschaften im Fernsehen, ein Youtube-Video eines indischen Gurus auf dem Laptop, und ihr Verlobter («es wird spät») wie immer in der Kanzlei. Dann hatte es an der Tür der stattlichen Villa geklingelt. Ihre zukünftige Schwägerin, ihre zukünftige Schwiegermutter und ihre eigene Mutter standen davor, in selbstbemalten «Team-Braut»-T-Shirts. Offenbar hatten sie schon ordentlich getrunken. «Guerilla-Polterabend», sagte die zukünftige Schwägerin, als Estelle in Trainerhose und Schlabberpulli öffnete. «Das wird toll», lallte die zukünftige Schwiegermutter. «Mach doch bitte nicht so ein Gesicht, Esti, denk an die Falten», sagte ihre Mutter. «Esti!» Niemand sonst nannte sie «Esti!» Estelle fuhr sich automatisch über die Stirn, als wolle sie sie glätten. Sie war 33 Jahre alt, eine erfolgreiche Motivationstrainerin, kurz davor, einen liebevollen Staranwalt zu heiraten, Falten gab es bei ihr nur in der NZZ, die sie jeden Morgen zu einem Chai Latte aufschlug.

«Stinkt das Kostüm noch sehr?», fragte die zukünftige Schwägerin, als sie Estelle die Ketchup-Flasche über den Kopf stülpte, sie habe das Ding bei ihrem letzten Promo-Job am Zürcher Hauptbahnhof getragen, acht Stunden lang, an einem dieser satanisch heissen Tage. «Wer wehrt sich auch so kindisch gegen seinen Polterabend?» fragte die Mutter. Das hätte man doch so viel schöner planen können, das hätte nicht so eine Hauruck-Überraschungs-Übung werden müssen, lallte die zukünftige Schwiegermutter, und reichte einen Flachmann herum. «Deine Freundinnen konnten so kurzfristig keinen Hütedienst für ihre Kinder organisieren», sagte die zukünftige Schwägerin, «aber du siehst sie ja nächste Woche an der Hochzeit.» Ihre Freundinnen. Ja. Zu denen hatte Estelle den Kontakt längst verloren. Ob sie auch reingefurzt habe, fragte Estelle die zukünftige Schwägerin, dieses Kostüm stinke ihr gewaltig.

Und nun stand Estelle also mitten in der Stadt, beim Piwi, vor aller Augen, auf dem nassen Rand des Löwenbrunnens. Sie hatte ihre Sommersandalen abgestreift. Aus der «Unvermeidbar» um die Ecke hüpfte der Jazz. «Los. Hopp und ex!» feuerte die zukünftige Schwägerin sie an, «und dann lässt du dich rückwärts zu uns fallen, wir fangen dich auf.»

Das sei doch eine klassische Übung in einem solchen Motivationsseminar, oder etwa nicht? Lallte die zukünftige Schwiegermutter. «Sieh es als Vorbereitung für die Ehe an», sagte ihre Mutter, «beides kann schiefgehen.» Estelle starrte auf ihre nackten Füsse, die unter dem Kostüm hervorschauten. Sie mochte sie nicht. Mit diesen Adern unter der dünnen Haut, kamen sie ihr viel zu alt vor. Sie setzte das Glas an und nahm einen kräftigen Schluck. Ein paar Piwi-Gäste klatschten und riefen «ex, ex, ex.» Estelle wusste schon lange, dass es nicht gut kommt, wenn sie so weitermacht. Sie liebte weder ihren Mann noch liebte sie sich. Wie der Ballon, den sie damals zu ihrem dreissigsten Geburtstag gekriegt hatte, war diese Liebe langsam aber stetig geschrumpft. Estelle war nicht der Mensch, der sie sein wollte. Diese Hochzeit durfte nicht stattfinden. Aber zu sagen schaffte sie es nicht. Schon seit Monaten. «Wir zählen auf 3», sagte ihre zukünftige Schwägerin, «los, sei mutig!» In diesem Moment wurde es Estelle völlig klar. Sie war die grösste Flasche weit und breit. «Ketchup», dachte sie, «das gibt eine richtige Sauerei.» Und liess sich absichtlich schon bei «1» rückwärts aufs Kopfsteinpflaster fallen.






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