Episode 15

Die Maske

Estelle öffnet ihr Herz. Und dann ihren Schrank. Sie hat einen Plan.

«Verrat mir eins», sagte Estelle zu Roberto, und Lilly und Marina spitzten sogleich die Ohren. «Warum wolltest du mich treffen? Warum hast du mir geschrieben? Gerade mir?» Estelle zupfte nervös an ihren Haaren. Roberto richtete sich so gut wie möglich auf und schaute Estelle überrascht an: «Oh, da muss wohl ein Missverständnis vorliegen, ich bin nicht wegen dir hier, sondern wegen der schönen alten Dame dort», und dann drehte er sich zu Lilly und zwinkerte ihr zu. Lilly wäre beinahe aus dem Rollstuhl gekippt, und der schwarze Kater auf ihrem Schoss machte einen Katzenbuckel und fauchte. «Nein, natürlich nicht», wiegelte Roberto ab, «kleiner Scherz.» Und dann schaute er wieder Estelle an. «Du hast einfach so traurig ausgesehen, wie du da an diesem Fenster standest, mit dieser Blume, und dann habe ich sie auch noch gefangen, das hat mich irgendwie berührt.» Estelle liess ihre Haare sein. «Komisch. Ich habe mir vor langer Zeit einmal geschworen, nie mehr traurig auszusehen, und habe das perfektioniert, ich habe sogar einen Job daraus gemacht, ich war die Meisterin im Nicht-traurig-aussehen, und die Leute waren gerade deshalb gerne mit mir zusammen, und dann lass ich mich auf die Hirse plumpsen und zack, sehe ich wieder traurig aus, als wäre die Schale geplatzt, als wäre der Schutz weg, die Haut, die das Traurige zurückhielt, ist doch krank! Ich musste mich in ein Kostüm zwängen, in eine Maske, um meine Maske endlich fallen zu lassen…»
«Moment, stopp, stopp!» schaltete sich Lilly ein. «Also ich glaube dem jungen Herrn, wenn er sagt, er sei wegen mir hier.» Und dann schickte sie Roberto einen Kuss durch die Luft. «Schade nur, dass er nicht bleiben kann.»
«Bleiben? Er muss gehen, und zwar jetzt!» sagte Marina, die schon die ganze Zeit im Zimmer umher getigert war. «Wir sollten los, der Chauffeur wartet bestimmt schon.» Sie hatte ihren ganzen Mut zusammengenommen und ihren Bruder angerufen. Natürlich hatte sie sich entschuldigt, wieder und wieder, es tue ihr leid, dieser doofe Sexheftchen-Spruch in ihrem Video-Blog, und dann aber gleich das Zückerchen hinterher…Autofahren! Ihr Bruder besass erst den Lernfahrausweis und hatte vielleicht fünf Fahrstunden gehabt, für den gab es im Moment nichts Grösseres als Autofahren. Und wenn dann noch der illegale Kick hinzukam, und ein Ford Mustang Coupée, und ein Youtube-Star auf der Rückbank, dann war die Sache ruckzuck geritzt.

«Ok», sagte Estelle, «dann los. Wir fahren mit dem Lift bis unten und dann geht’s raus durch den Haupteingang.»
«Verstehe ich nicht», sagte Marina, «ich dachte, sie haben einen wirklichen Plan? So sehen ihn ja alle.»
«Maske, meine Liebe», sagte Estelle, «habt ihr mir denn nicht zugehört? Es geht immer um Masken und ums Ablenken vom Wesentlichen.» Daraufhin öffnete Estelle ihr Schränkchen und nahm das Ketchup-Kostüm vom Bügel. Als sie es sich über den Kopf zog, wurde ihr beinahe schlecht. Es roch nach Schweiss, Bier und Blut. «Ich gehe voraus», sagte sie, «und du», sie zeigte auf Marina, «schiebst das Rollbett. «Keine Angst, ich sorge dafür, dass niemand auf euch schaut, sondern alle auf mich, im schlimmsten Fall singe ich noch ein Lied…»
«Das würde ich gerne miterleben», sagte Lilly, «aber ich bleibe lieber hier, irgendwie fühle ich mich gerade nicht so gut, ich werde mich lieber etwas hinlegen.»
Und als die Ketchup-Flasche, der rollende Roberto und die filmende Marina zur Tür raus waren, machte sich Carlo, der schwarze Krankenhaus-Kater, bereit.






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